Heute soll es um etwas Großes gehen: um den Begriff der Balance als etwas Positives. Ist Balance nicht so etwas wie die optimale Beziehung zwischen zwei oder mehreren Teilen eines Ganzen? Teile, die, obwohl mitunter sehr unterschiedlich und möglicherweise antagonistisch in ihrem Wesen, sich so gut miteinander in Beziehung setzen, dass sie die „Magie des Lebens“ überhaupt erst ermöglichen?!

Beispiele gibt es viele: Die perfekte Balance einer DNA-Doppelhelix-Struktur, die optimal abgestimmten Regulationsmechanismen einer Zellmembran, die Balance im Stoffwechsel und Energiehaushalt ermöglichen, die gleichberechtigte Partnerschaft von Sympathikus und Parasympathikus als Komplementäre unseres vegetativen Nervensystems, die Homöostase als Idealzustand sozialer Systeme (Luhmann) und das Equilibrium als Idee eines gesunden Marktes zwischen Kräften wie Angebot, Nachfrage, Konkurrenz und Preisgestaltung (Nash). Ist unsere Wissenschaft nicht voller Ideen, die ein dynamisches Gleichgewicht der Kräfte als Grundvoraussetzung für Leben und nachhaltiges Wachstum ansehen? Ganz bestimmt ist sie das! Genau wie das Wissen der Urvölker: Die indigenen Hopi (Koyaanisqatsi) und Yanomami des Amazonas (Krankheit des Himmels) sind zwei prominente Naturvölker, die unsere sogenannte zivilisierte Welt vor Langem warnten: Behaltet bloß das Gleichgewicht im Auge und nehmt niemals mehr von Mutter Erde, als sie bereit ist, euch zu geben und zu vergeben!

Wäre die Welt heute ein besserer Ort, hätte sie die Weisheit der Balance als etwas Positives nicht zu lange ignoriert? Ich glaube schon. Beispiele gibt es viele. Gerechte Gesellschaften hätten es niemals ausschließlich den freien Märkten überlassen, Wohlstand und Stabilität zu garantieren. Mit Blick auf das Balance-Gebot hätten sie frühzeitig gegengesteuert und das Entstehen eines Wohlstandsgefälles und anderer Disparitäten verhindert. Und nach der Weltfinanzkrise 2008 hätten es auf Lastenausgleich bedachte Politiker wohl kaum den Banken wieder erlaubt, hochrisikoreiche Produkte zu handeln, ohne den Steuerzahler effektiv zu schützen, bald wieder etwas retten zu müssen, das sie als systemrelevant (too big to fail) bezeichnen.

Auch angesichts der durch die COVID-19-Pandemie ausgelösten Versorgungsengpässe kommt es uns bildlich gesprochen schräg vor, dass Industrienationen die Herstellung lebenswichtiger pharmazeutischer und intensivmedizinischer Produkte auslagerten und es komplett den globalen Handelsmärkten überließen, bei steigender Nachfrage in der Bevölkerung ein ausreichendes Angebot sicherzustellen. Jetzt, da unsere Welt wieder aus dem Gleichgewicht geraten ist, stehen Politiker abermals vor schwierigen Entscheidungen, bei denen sie die Vor- und Nachteile verschiedener Maßnahmen sorgfältig abwägen müssen. Es ist interessant zu sehen, wie in dieser aktuellen Krise jeder mündige Bürger Stellung beziehen muss. Was ist das beste Gleichgewicht zwischen der Notwendigkeit, die Ausbreitung des Virus einzudämmen, und der Notwendigkeit, die Wirtschaft am Laufen zu halten und Grundrechte zu bewahren? Wie kann man das Streben nach Verringerung des persönlichen Ansteckungsrisikos mit dem Wunsch nach wirtschaftlichen und sozialen Aktivitäten in Einklang bringen? Wahrscheinlich ist es gut, diese Fragen zu stellen, wenngleich Antworten nicht einfach zu finden sind. Indem wir politische Aussagen und Maßnahmen als extrem, übertrieben und unausgewogen erkennen und anprangern, können wir Autoritäten widersprechen, wenn sie die Weisheit der Balance ignorieren. Ich erinnere mich an den britischen Premierminister Boris Johnson, der über die Notwendigkeit spekulierte, stumpf weiterzumachen, bis komplette Herdenimmunität erreicht sei. Das war, bevor er selbst an dem Virus erkrankte und intensivmedizinisch behandelt werden musste. Oder ich denke an US-Präsident Donald Trump, der versuchte, die amerikanische Öffentlichkeit zu hypnotisieren, indem er prophezeite: "Das Virus wird eines Tages einfach wieder verschwinden – wie durch ein Wunder!“ Dieses Wunder ist natürlich nie geschehen. Des Weiteren denke ich an Jair Bolsonaros konsequente Verleugnungs- und Verharmlosungsstrategie oder an Wladimir Putin, der seine Gouverneure erst systematisch entmachtete und ihnen dann alle Verantwortung zurückgab, sobald die schwer zu kontrollierende Pandemie den Ruf seiner Zentralregierung zu bedrohen begann.

Was machen erfolgreiche Führungspersönlichkeiten anders? Gelingt es ihnen besser, ihre Entschlossenheit zur Durchsetzung erforderlicher Maßnahmen gegen berechtigte Bedenken abzuwägen, die in diesen Maßnahmen den Weg zur Schaffung eines Polizeistaats erkennen? Sind weise, dem Balance-Gebot verpflichtete Regierungsvertreter ebenso unnachgiebig hinsichtlich der Notwendigkeit, Infektionsketten zu verfolgen und zu unterbrechen wie hinsichtlich der Notwendigkeit, unsere Privatsphäre zu schützen und den Schutz von Daten sicherzustellen? Gelingt es ausgewogenen Politikern besser, uns Hoffnung auf bessere Zeiten nach der Pandemie zu geben, ohne uns der Illusion preiszugeben, wir könnten an denselben Ort zurückkehren, an dem sich die Welt vor COVID-19 befand?

Es scheint, dass es zumindest einigen Führern dieser Welt ganz gut gelingt, die vielen unterschiedlichen Interessen und Notwendigkeiten im Umgang mit der Pandemie auszugleichen. Ihr Geheimnis? Uns, dem Volk, nur so viel wie nötig aber so wenig wie möglich aufzuerlegen! Mal sehen, ob die ausgewogeneren Ansätze des Krisenmanagements den extremen (Total Lockdown, Business as usual) wirklich überlegen sein werden. Der kluge Anlagespezialist empfiehlt in der Regel ein diversifiziertes gut austariertes Portfolio. In dieser Frage wage ich es jedoch, alles auf eine Karte zu setzen. Ich wette auf Balance als finalen Sieger! Worauf tippen Sie?

     
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